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Pseudoübersetzungen: Imaginationen anderssprachiger Originale

26.-28. September 2011, Universität Innsbruck.
Organisation: Brigitte Rath und Melanie Fessler

Pseudoübersetzungen sind, der Standarddefinition Gideon Tourys zufolge, originale Texte, die vorgeben, Über­setzungen zu sein und damit einen anderssprachigen Originaltext evozieren. Bekannte Beispiele dafür sind etwa Montesquieus Lettres persanes und McPhersons Ossian. Diese Texte präsentieren sich als Resultate einer imaginierten Kulturbegegnung und -­vermittlung; sie nutzen diesen imaginativen Spielraum zum Beispiel – Montesquieu ist dafür ein ebenso prominentes wie ein­schlägiges Beispiel –, um die eigene Kultur im imaginierten fremden Blick zu reflektieren und zu kritisieren, um – wie Ossian – ein traditions- und nationsstiftendes Original zu erfinden, oder – wie es Toury für Holz/Schlafs Papa Hamlet zeigt – die Einführung neuer literarischer Genres oder Stile zu erleichtern.

Die Tagung »Pseudoübersetzungen: Imaginationen anderssprachiger Originale« möchte nun diesen Begriff der Pseudoübersetzung in zwei Dimensionen erweitern.

Zum Einen soll das Spektrum betrachteter Texte von extrafiktionalen Pseudoübersetzungen zu Texten hin ausgedehnt werden, die vergleichbare Strukturen innerhalb der Fiktion aufweisen: solche innerfiktionalen Spielarten von Pseudoübersetzungen treten etwa auf, wenn Figuren innerhalb der fiktiven Welt vorgeblich in einer Spra­che miteinander sprechen, die nicht diejenige ist, in der der Text den Dialog wiedergibt; Susan Bassnett nennt dieses Phänomen »fictitious translation«. Diese imaginierte Anderssprachigkeit steht in den einzelnen Texten bisweilen in Kontrastrelation zu tatsächlicher Mehrsprachigkeit; sie kann »authentische« Exotik und fremde Denk- und Redeweisen suggerieren und dabei leicht verständlich bleiben; und denkbare Möglichkeiten sprachlicher und kultureller Andersheit ausloten. Beispiele dafür sind ausgesprochen zahlreich, aber unter diesem Gesichtspunkt noch nicht systematisch erschlossen. Sie finden sich sprach-, epochen- und genreübergreifend unter anderem in fiktionalen Reise- und Abenteuerberichten, in Fantasy- und  Science-Fiction-Romanen, in Migrationsliteratur und in postkolonialen Texten; aber auch in anderen Gattungen und Medien, wie z.B. im Drama und im Film.

Zum Anderen soll eine charakteristische Bewegung von Pseudoübersetzungen konzeptualisiert und reflektiert werden: der Verweis eines Textes von sich weg auf ein imaginiertes »Original«, dessen »Authentizität« gerade über die Verweisstruktur garantiert und über die Evokation markierter Differenz – eine andere Sprache und Kultur, einen vorgängigen Text – begehrenswert wird. Diese Doppelstruktur der als »Original« verleugneten »Übersetzung« und dem evoziertem unverfügbaren »Original« und das daraus mögliche Spiel damit, zugleich als Original und Übersetzung rezipiert zu werden, zieht andere spannungsgeladene Doppelstrukturen nach sich: das Begehren nach sprachlicher Transparenz und universalem Verstehen wird begleitet von einem ebenso starken Begehren nach Exotismus und sprachlicher Relativität; die scheinbare Einsprachigkeit des Textes evoziert zugleich Mehrsprachigkeit; die eigene Kultur wird verfremdet im Blick einer ganz anderen, die aus der eigenen heraus imaginiert wird und (nur?) innerhalb dieser verständlich ist.

Dieser doppelt erweiterte Begriff von Pseudoübersetzung soll nun bei dieser Tagung aus möglichst vielen verschiedenen Richtungen heraus erprobt werden. Mögliche Beiträge könnten sich mit Einzel- oder Vergleichsstudien aus dem gesamten Spektrum des angedeuteten Textkorpus beschäftigen, an die theoretischen Überlegungen zur Struktur und Dynamik von Pseudoübersetzungen anknüpfen oder die vorgeschlagene Erweiterung des Begriffs kritisch diskutieren.

Einige Beispiele für mögliche Themen und Fragen:

  • Literatursoziologische Fragestellungen: (Extrafiktionale) Pseudoübersetzungen setzen die Ent­scheidung voraus, ein Original als Übersetzung auszugeben. Damit verweisen sie auf die Unter­schiede in den Konnotationen, die mit eigenkulturellen respektive fremd­kulturellen Pro­dukten verbunden werden. Daran schließen sich u.a. folgende Fragen zu Konstellationen und Ent­wicklungen des jeweiligen literarischen Feldes an: Was ist in bestimmten historischen und kulturellen Kontexten Übersetzungen erlaubt, was Originalen nicht möglich ist? Inwiefern kann eine Übersetzung attraktiver sein als ein (eigenkulturelles) Original? In welchen Genres und kulturellen Kontexten sind nur Texte aus einer (bestimmten) anderen Kultur überhaupt markt­fähig?
  • Kulturwissenschaftliche Fragestellungen: Wie wird in Pseudoübersetzungen Kulturkontakt dar­gestellt und reflektiert? Wie wird die eigene Kultur in der imaginierten fremden reflektiert und kritisiert? Wie wird kulturelle Differenz markiert? Welches »Bild« einer anderen Sprache/ einer anderen Kultur wird durch konkrete Pseudoübersetzungen (wie) entworfen? Welche Rolle spielen dabei Stereotypisierungen? Wie wird der Freiraum genutzt, wenn fiktive Sprachen und Kulturen als Originale entworfen werden, und wo stoßen die Imaginationen an ihre Grenzen?
  • Gendertheoretische Fragestellungen: Inwiefern wird die Markierung von Differenz zwischen »übersetztem« Original und evoziertem »Original« durch das Unterlegen einer Geschlechter­differenz konstituiert oder gestützt? Wie werden evozierte fiktive Sprachen auf imaginierte andere Geschlechterordnungen bezogen?
  • Postkoloniale Fragestellungen: Pseudoübersetzungen thematisieren kulturell und sprachlich Andere, die und deren Sprechen ausschließlich in der eigenen Sprache nicht etwa »repräsen­tiert«, sondern überhaupt erst imaginiert wird. Wie erscheinen diese (von früh- und hoch­kolonialistischen bis zu zeit­genössischen) Texte unter der Perspektive postkolonialer Dis­kus­si­onen über die Repräsentation Anderer?  Pseudoübersetzungen eröffnen einen Freiraum, in dem eine fiktive Sprache imaginiert werden kann – erlaubt das einen spielerischen Umgang  mit den und neue Reflexionen über die Möglichkeiten sprachlicher Repräsentation überhaupt?
  • Narratologische Fragestellungen: Wie verhält sich das Phänomen der Pseudoübersetzung zum Beispiel zur weithin akzeptierten Genetteschen Unterscheidung von Stimme und Fokalisierung? Zu den verschiedenen narratologisch unterschiedenen Ebenen? Zu der Oszillation von Originalität und Vorgängigkeit zwischen discours und histoire?
  • Linguistische Relativität: Gerade Pseudoübersetzungen bieten die Möglichkeit, die Frage nach sprachlicher Determinierung von Weltzugängen durch die imaginative Setzung möglichst klar verschiedener anderer Sprachen und Kulturen auszuloten. Wie wird der Effekt der Pseudo­übersetzung hier genutzt, um Konzepte, die als »vollständig fremd« markiert sind, gleichzeitig dennoch zu vermitteln, und welchen Beitrag zur Debatte um linguistische Relativität leisten diese Texte?
  • Linguistische Fragestellungen: Wie werden – auch im Vergleich mit »echten« Übersetzungen – in den einzelnen Texten die Spuren der (imaginierten) »Ausgangs«-Sprache sichtbar? Wie wird zum Beispiel das heteroglotte Potential einer Sprache zur Simulation von Polyglossie verwendet?
  • (Inter)mediale Fragestellungen: Wie gehen nicht ausschließlich schriftsprachliche Medien wie Film und Drama mit dem Phänomen Pseudoübersetzung um? Welche Möglichkeit bietet etwa die (tatsächliche) Mündlichkeit des Dialogs, (wie) kann Anderssprachigkeit auch zum Beispiel visuell markiert werden? Könnte es sinnvoll sein, auch die Evokation eines medial, nicht aber sprachlich verschiedenen Originals als Pseudoübersetzung zu bezeichnen?
  • Übersetzungswissenschaftliche Fragestellungen: Wie verhalten sich Übersetzungen von Pseudo­übersetzungen z.B. zu Übersetzungen mehrsprachiger Texte? Welche spezifischen Fragen treten auf? Werden daran systematische Differenzen in den Möglichkeiten verschiedener Sprachen zur Markierung von Anderssprachigkeit deutlich?
  • Übersetzungstheoretische Fragestellungen: Können (manche) Pseudoübersetzungen durch evozierte Mehrsprachigkeit leisten, was Benjamin für Übersetzungen beansprucht: auf die konkrete Sprachigkeit von Sprachen (im Plural) hinzuweisen und damit den Charakter von Sprache (im Singular) sichtbar zu machen?

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